Das gefährlichste Buch der Schweiz: Es war rot, zeigte eine Armbrust und kostete nichts. Das machte es verdächtig

Zwei literaturbegeisterte Zürcher sammelten Texte zu einem Buch und verteilten dieses 1971 umsonst auf der Strasse. Die Aktion war legendär und alarmierte den Staatsschutz.

Die Idee klingt harmlos. Zwei junge Zürcher rufen Ende der 1960er Jahre mit einem Plakat dazu auf, man möge ihnen literarische Texte schicken. Eine Auswahl werde sodann in einem Gratisbuch herausgegeben. Der Aufruf ist ein Fiasko. Aus über dreihundert Einsendungen sind gerade einmal sieben Texte brauchbar. Also gehen die beiden den umgekehrten Weg. Sie schreiben Schriftsteller direkt an: von Peter Bichsel über Erika Burkart und Max Frisch bis Friedrich Dürrenmatt. Fünfzig Briefe werden verschickt, fünfzig Zusagen treffen ein.
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Der Germanistik- und Kunststudent Theo Ruff hatte eine kleine Erbschaft gemacht und wollte das Geld sinnvoll ausgeben. So kam er auf die Idee, ein Gratisbuch herauszugeben. Der Schriftsteller Peter K. Wehrli stand ihm zur Seite, und zusammen stemmten sie das Projekt, das anspruchsvoller war, als sie sich vorgestellt hatten, denn das Buch erschien in einer Auflage von 40 000 Exemplaren.
Am 20. November 1971 luden sie zur ersten offiziellen Verteilaktion am Zürcher Helvetiaplatz ein. Vor Ort war auch das Schweizer Fernsehen und filmte die bald skeptischen, bald verunsicherten Gesichter der Passanten, denen ein Buch mit Texten von Schweizer Schriftstellern umsonst angeboten wurde. Wenn etwas gratis war, musste es Argwohn erwecken. «Steht da Religiöses drin?», fragte eine Frau misstrauisch. Das Buch machte sich nicht nur deshalb verdächtig, weil es gratis war. Es war auch noch rot, auf seinem Umschlag stand in anarchischer Kleinschreibung: «dieses buch ist gratis.», und schliesslich war das «t» in «gratis» als Armbrust gestaltet. War das nur Hohn oder schon Landesverrat?
Ein Schreiner hat einen VerdachtAm Mittwochabend hat Peter K. Wehrli im Zürcher Antiquariat Peter Bichsel Fine Books die Geschichte dieses legendären Gratisbuchs erzählt und sie mit zahlreichen Anekdoten ausgeschmückt. Die beiden jungen Initianten hatten nicht nur eine genial einfache Idee, sie waren offensichtlich ebenso geschickt in der Vermarktung ihres ungewöhnlichen Produktes.
Bereits am Morgen der ersten Verteilaktion konnten sie als Studiogäste im Schweizer Radio für ihre Aktion Werbung machen. Allerdings berichteten sie den Zuhörern, dass die Verteilung gefährdet sei, noch ehe sie begonnen habe. Denn ein Schreiner, der eine Bühne hätte aufbauen sollen, witterte, dass hinter dem roten Buch Moskau stehe, und zog sich zurück.
Noch während die Sendung gelaufen sei, so erzählte Wehrli, habe ein Transportunternehmer ins Studio angerufen und angeboten, auf der Stelle einen Lastwagen zum Helvetiaplatz loszuschicken, wo er als Schaubühne dienen sollte. 5000 Exemplare seien an jenem Tag verteilt worden, und auf dem Lastwagen spielte eine Musikband.
Das Ereignis schaffte es bis in die internationale Presse, wie Dominik Landwehr in seinem Buch «27 merkwürdige Geschichten aus der Schweiz» schreibt: Der «San Francisco Chronicle» titelte bereits am 25. November 1971: «A Swiss Book Named ‹Gratis›». Die «International Herald Tribune» brauchte etwas länger, um darüber zu berichten, dafür war die Punchline besser: «No money can buy this Swiss book.»
Sie hätten das Buch natürlich auch einfach in Briefkästen stecken können, sagt Wehrli heute. Doch es sei ihnen auch um Aufmerksamkeit gegangen. Sie strebten ganz bewusst und auch etwas treuherzig eine Literarisierung der breiten Öffentlichkeit an. Und sie hatten es sich zur volkspädagogischen Aufgabe gemacht, auch sehr abgelegene Orte aufzusuchen. «Jeder soll zu seinem Buch kommen», sei die Maxime gewesen. Erstaunlich wenige seien abweisend gewesen, nur die verbissen Argwöhnischen hätten sie nach Moskau schicken wollen, erzählte Wehrli.

Ein Schriftsteller habe sich indessen nicht an seine Zusage gehalten, darum seien in dem Buch nur 49 Texte abgedruckt. Dürrenmatt habe einfach nicht geliefert. Doch weil für ihn im Buch bis zuletzt eine Doppelseite freigehalten worden war, blieben die beiden Seiten auch im fertigen Buch leer. Sie erregten ebenso Aufmerksamkeit wie die besten Texte.
So viel Rot, so viel subversive Kleinschreibung, die geheimnisvollen leeren Seiten: Da runzelten auch die Staatsschützer ihre Stirnen. Erst dreissig Jahre später erfuhren Wehrli und Ruff, dass man sie für gefährlich gehalten und darum observiert hatte: Die Texte zeugten «von revolutionärer Grundhaltung», hatten die Beamten an die Zentrale gemeldet.
nzz.ch




