«Ich muss also der Islamischen Republik danken»: Der iranische Regisseur Jafar Panahi liess sich im Gefängnis zu seinem neuen Film inspirieren

Eine Begegnung mit dem Filmemacher, der in «It Was Just an Accident» einstige Gefangene auf ihren Peiniger treffen lässt.

Tricks und Finten gehören zum Filmschaffen, das ist bekannt. Mit ihnen wird die Illusion auf der Leinwand perfektioniert, die Spannung erhöht. Die Trickkiste des Jafar Panahi aber ist existenzieller Natur: Nur dank ihr kann er überhaupt drehen.
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Würden er und seine Berufskollegen das iranische Regime, die Sittenwächter und Häscher nicht seit Jahrzehnten überlisten, gäbe es im Land kein Filmschaffen, das diesen Namen verdient. Die Mullahs wissen um die Kraft des Kinos und erklären es deshalb zum Verbrechen, wenn sie die Inhalte nicht steuern können.
Gebremst und angetrieben zugleichPanahis Kreativität wurde also stets durch Repressionen gebremst – und umgekehrt auch angetrieben. Diese Einschätzung bestätigt der 65-jährige Regisseur im Gespräch in einem Hotelzimmer hoch über Locarno, vor sich ein Schälchen mit Glace. Die Dolmetscherin, die zwischen Farsi und Englisch übersetzt, hat es für ihn bestellt, doch er zeigt wenig Lust darauf. Er bietet es dem Journalisten an – dieser Löffel sei unberührt – und fährt fort: «Wenn es keinen Weg gibt, der immer funktioniert, und die Umstände immer wieder wechseln, muss man ständig ein bisschen zum Pionier werden.»
Für seine Unbeugsamkeit wird Panahi ebenso bewundert wie für die Kunst, die daraus erwächst, und beides brachte ihn hinter Gitter: Wegen «Propaganda gegen das System» wurde er 2010 in Iran zu sechs Jahren Gefängnis und zwanzig Jahren Berufsverbot verurteilt, das auch Interviews und Auslandsreisen einschloss. Mit der ständigen Angst vor erneuter Verhaftung im Nacken hat der Regisseur viele Wege gefunden, seinen Beruf trotz allem auszuüben.
Bei «Taxi Teheran» (2015) nutzte er sein Privatauto, um heimlich Menschen der Hauptstadt als Fahrgäste zu porträtieren. «Closed Curtain» (2013) und «This is Not a Film» (2011) drehte er bei sich zu Hause; dass Letzterer auf einem USB-Stick nach Cannes gelangt sei, der in einen Geburtstagskuchen eingebacken gewesen sei, hat allerdings irgendjemand frei erfunden, wie er richtigstellt.
Insgesamt war Panahi fast ein Jahr lang inhaftiert, im berüchtigten Evin-Gefängnis. Nach einem Hungerstreik kam er schliesslich Anfang 2023 auf Kaution frei. Womöglich ist sein wachsender Ruhm zum Schutzschild geworden. Er ist weltweit wohl der bekannteste Dissident seines Heimatlandes, gehört zum erlauchten Kreis im Regiefach, der in Venedig, Cannes wie auch Berlin den Hauptpreis geholt hat. Inzwischen hat Irans Oberster Gerichtshof alle Sanktionen gegen ihn für ungültig erklärt, nach 15 Jahren darf Panahi nun wieder mit Medien sprechen und offiziell seinen Beruf ausüben.
Eine Drehbewilligung des Ministeriums für Kultur und islamische Führung allerdings, das dafür vorher stets das Skript prüfen will, holt er weiterhin nicht ein. Das gilt auch für «It Was Just an Accident», in Cannes dieses Jahr mit der Goldenen Palme prämiert und am Filmfestival von Locarno im August gezeigt. Es ist eine Mischung aus Thriller, Komödie und Parabel um Schuld, Rache und Vergebung in einem System, das geprägt ist von Lügen und Korruption. Dies klingt nach etwas viel auf einmal, funktioniert aber erstaunlich gut.
Ein Bagatellunfall im Strassenverkehr treibt einen Schergen des iranischen Regimes (Ebrahim Azizi) in die Arme eines seiner Opfer: Der Automechaniker Vahid (Vahid Mobasseri), ein ehemaliger politischer Gefangener, glaubt, seinen damaligen Peiniger am Knirschen der Beinprothese zu erkennen, das sich ihm während der stundenlangen Verhöre im Gefängnis mit verbundenen Augen eingeprägt hat. Er entführt ihn in einem Lieferwagen, obwohl der andere beteuert, das müsse eine Verwechslung sein. Es entwickelt sich eine Achterbahnfahrt zwischen Drama und Leichtigkeit, mit Ausflügen ins Groteske.
Wenn Machtverhältnisse drehenNach einem Verhör mit umgekehrten Vorzeichen findet Vahid sich in einem doppelten Dilemma wieder: Hat er überhaupt den Richtigen erwischt, und wenn ja, welche Vergeltung ist angebracht? Um beide Fragen zu klären, sucht er weitere Opfer auf, vom Buchhändler bis zur Fotografin, Details von unvorstellbarer Grausamkeit kommen an den Tag, von Folter bis zu Vergewaltigung. Das Ganze gipfelt in einer surreal wirkenden Szenerie in der Wüste; ein Protagonist fühlt sich an «Warten auf Godot» erinnert, und die zusammengewürfelte Gruppe weiss noch immer nicht, was anfangen mit ihrem Gefangenen.
Das Gedankenexperiment zur Frage, was geschieht, wenn Machtverhältnisse drehen, erinnert an «Death and the Maiden»: Das von Roman Polanski verfilmte Theaterstück um eine Frau, die ihren Peiniger aus einer ehemaligen Militärdiktatur in die Hände kriegt, habe ihn nebst anderen Werken inspiriert, räumt Panahi ein. Aber es gebe einen entscheidenden Unterschied: Seine Filme spielten in einer Schreckensherrschaft, die noch existiere. «Ich spüre diese Verantwortung auf meinen Schultern, besonders bei der Frage, wie diese Geschichte enden soll.» Sein Schluss sei hier nicht verraten. Doch er ist genährt von der Überzeugung, dass Irans Zukunft gewaltlos sein muss.
Panahis Werke sind stets von seinem direkten Umkreis inspiriert, wie begrenzt dieser auch sein mag. In diesem Fall war es der kleinstmögliche Raum: das Gefängnis. Er teilte sich während seiner Haft vor drei Jahren eine Zelle mit anderen politischen Gefangenen, die er nicht gekannt hatte. Am Ende fühlte er sich diesen Menschen so nahe, dass er Schuld oder zumindest Gespaltenheit empfand, als er das Gefängnis und somit ihre Gemeinschaft verlassen durfte. «Sie hatten mir ihre Schicksale und Geschichten erzählt, und so fanden dieser Film und seine Figuren fast automatisch zu mir. Ich muss also der Islamischen Republik danken», konstatiert er mit dem ihm eigenen Sarkasmus, während sein Eis auf dem Tisch vor sich hin schmilzt.
Als Inspirationsquelle nennt Panahi auch Vaclav Havels Essay «Die Macht der Machtlosen», namentlich die Passagen über die Mechanismen totalitärer Regime: Die Gewalt gegen die Bürger führt zu Gegengewalt, die wiederum dem Staat als Vorwand dient, seine eigene Gewalt zu verstärken. «Alles, wovon Havel schreibt, ist vom Regime in Iran angewendet worden», stellt er fest.
Paradox erscheint, dass der Regisseur zwar mit ganzem Herzen an das unabhängige Kino und dessen Kraft glaubt, aber partout nicht als politischer Filmemacher gelten will. Das ist mit seiner Abneigung gegen jegliche Propaganda zu erklären. Er verteidige keine Partei oder Ideologie, erklärt er; denn das hiesse, die Menschheit in einen guten und einen bösen Teil einzuteilen.

Jean-Christophe Bott / Keystone
Die Umstände, das System brächten die Menschen dazu, sich schlecht zu verhalten, nicht persönliche Entscheidungen: Diese Botschaft zieht sich als roter Faden durch Panahis Œuvre. Besteht nicht die Gefahr, dass Täter und Mitläufer mit einer solchen Argumentation jede Verantwortung von sich weisen? Panahi sieht das Dilemma, von seiner Haltung aber weicht er nicht ab: «Als sozialer Filmemacher halte ich niemanden für grundsätzlich gut oder böse. Wer in diesem System weiterkommen oder überleben will, muss in einer Weise handeln, wie er es ausserhalb niemals täte. Wir alle werden mehr oder weniger zu unserem Verhalten gezwungen», erklärt er.
Ihn selbst habe das System so weit gebracht, im Gefängnis in den Hungerstreik zu treten, um wenigstens einen Anwalt sehen zu können. Und Frauen nötige es dazu, den Kopf zu bedecken, ob sie wollten oder nicht. «Werden eines Tages die Regeln nicht mehr befolgt, wird das System zwangsläufig kollabieren. Und unsere Aufgabe als Filmemacher und Künstler ist es, die Dinge so weit zu bringen, dass diese Verletzungen stattfinden können, diese kleinen Revolutionen.»
Den Frauen gewidmetPanahis Filme sind geprägt von Humanismus – und seinem speziellen Vertrauen in die Stärke der Frauen. In «It Was Just an Accident» steht für die Zukunftshoffnung das kluge Töchterchen des vermeintlichen Folterers, das den regimetreuen Kurs seiner Eltern hinterfragt. Bei seinem Auftritt zur Vorführung auf Locarnos Piazza Grande widmet Panahi den Film den Frauen in seinem Land, aber auch seinen ehemaligen Mitgefangenen – und erzählt eine Begebenheit aus dem Gefängnis: Bei einem Brand hätten Inhaftierte in einen anderen Trakt fliehen können. Und als dieser ebenfalls in Flammen aufgegangen sei, hätten sie mit aller Kraft jene zu retten versucht, von denen sie selbst verhört und gefoltert worden seien.

«Das ist für uns alle eine grosse Lektion in Menschlichkeit», sagt er, bevor überraschend Mohammad Rasoulof zu ihm auf die Bühne tritt: Der Weggefährte und Berufskollege, mit dem er Monate in derselben Gefängniszelle verbrachte, lebt inzwischen in Europa. Panahi sagt von sich, er könnte nirgendwo anders leben als in Iran. Eines Tages werde dort jede Mauer niedergerissen sein, die dieses Regime errichtet habe, ruft er auf die Piazza hinaus. «Und Filmemacher finden immer Wege, ihre Filme zu machen, auch wenn Regime sie zu blockieren versuchen.» Dafür habe er seine Techniken und Tricks. Aber die werde er nicht verraten, sonst manövriere er sich und seine Freunde nur in Probleme.
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