Leichter Schwindel und starke Gefühle – Mieko Kanai ist eine japanische Virginia Woolf für das 21. Jahrhundert
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
Was für ein wunderbarer Titel für ein Buch, das überraschender nicht sein könnte: «Leichter Schwindel». Ausgerechnet die intellektuellste japanische Autorin, die man sich nur vorstellen kann, Mieko Kanai, schreibt über den so gar nicht aufregenden Hausfrauenalltag. Und scheint dabei so tiefenentspannt, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Das Ganze in schwebenden Schleifen, seitenlangen Sätzen, Erinnerungsinseln streifend und wie in einer Wischbewegung die verschiedensten Assoziationen einholend.
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Wie macht Mieko Kanai das nur, dass man unwillkürlich weiterliest, hin- und hergerissen zwischen einer gewissen Trostlosigkeit der Verhältnisse, dem eher öden Alltagseinerlei einer verheirateten Mittelstandsmutter von zwei Söhnen Ende dreissig in einem etwas bürgerlich-spiessigen westlichen Bezirk von Tokio und den faszinierenden Kaskaden von bewusstseinsstromartigen Ausleuchtungen der nahen und ferneren Umgebung? Vor allem aber wird der seelische Innenraum der fast vierzigjährigen Hausfrau Natsumi, die mit ihrer ganz normalen Familie im Tokioter Alltagstrott lebt, blitzartig in hartes und weiches Licht getaucht, in einer Mélange aus sehr sinnlich-konkreten wie eigenartig verschwimmenden Wahrnehmungen.
Wasser, nicht bloss WasserWer hat sich schon je so genau beobachtet beim Geschirrspülen, wenn das Wasser in den Abfluss läuft? «Es fühlt sich irgendwie gut an, nicht so, als würdest du träumen, aber dann kommst du mit einem Ruck zu dir, weil du Wasser verschwendest, du verstehst das wahrscheinlich nicht, vor allem, weil du kaum Hausarbeit machst, sagte Natsumi zu ihrem Mann, der leicht verärgert, aber auch ein wenig beunruhigt die Augenbrauen hochzog, wie um zu fragen, was sie ihm nun eigentlich damit sagen wolle, natürlich kannte sie diesen Ausdruck nur zu gut . . .».
Eine Frau, die sich über das Wort für Wasserhahn Gedanken macht und weiss, dass fliessendes Wasser absolut nichts Geheimnisvolles an sich hat, und doch fällt sie «beim blossen Hinschauen in eine Art Trance». Oder nehmen wir die erzählerisch raffiniert gestapelten Erinnerungen, wo Drehbuchschreiben als Broterwerb, Machoallüren von Frauen, Besäufnisse aller Art, Truffauts Film «Die Frau nebenan» und eine seltsame Beklommenheit beim Anblick historischer Fotos zum Thema werden.
Alles geht nahtlos ineinander über, aber jedes einzelne Erzählelement ist so stimmig verfugt und plastisch präsent, dass es sich ins Gedächtnis des Lesers einschreibt und eine Art Gesellschaftspanorama aus diversen Gefühlslagen, sozialen Schichten, individuellen und kollektiven Erinnerungen erstehen lässt.
Das Grundgerüst ihres Textes, so Mieko Kanai im Nachwort, entstand bereits 1968. Zu einem Buch ausgearbeitet habe sie ihn vor der Jahrtausendwende. Die Zeithorizonte der Phase starken Wachstums der sechziger wie der saturierten, aber auch stagnierenden Konsumwelt der neunziger Jahre fliessen ineinander. Sie werden historisch noch tiefer gestaffelt in zwei Kapiteln, in denen Texte zu Fotoausstellungen über Tokio in den dreissiger Jahren bis in die Nachkriegszeit sich in Reaktionen und Assoziationen der Frau und ihrer Freundinnen spiegeln, schwankend zwischen Nostalgie für eine Zeit, die keine von ihnen selbst erlebt hat, und vielfacher Distanz; selbst Ungesagtes und Unkommentiertes schmilzt ein in die perspektivisch gebrochenen Bilder der letzten Jahrzehnte bis in die Gegenwart.
Das ergibt eine schillernde, tiefgründige Sicht auf die Metamorphosen einer Weltmetropole im 20. Jahrhundert aus weiblicher Innenperspektive, in der so vieles eingefangen scheint von den Traumata und Träumen der Menschen bis in die Gegenwart, und zwar auf einer zunächst denkbar banal erscheinenden Ebene.
Ihrer Zeit vorausWer ist diese Autorin, die uns mit Alltagsgeschichten vom «Katzenfluch» um die Frau des Fischhändlers ebenso wie mit Hochzeitsvorbereitungen, Klassentreffen oder Blickfluchten in Supermarktregale derart bei der Stange halten kann?
Mieko Kanai, Jahrgang 1947, erregte bereits im Alter von 19 mit Lyrik und ihrer Erzählung «Liebesleben» Aufsehen und gewann früh erste Preise. Hintergrund ihres seither kontinuierlich wachsenden erzählerischen und essayistischen Œuvres ist eine breite Lektüre, die vom europäischen Roman des 19. Jahrhunderts über die Klassiker der Moderne bis zur lateinamerikanischen Literatur, etwa Jorge Luis Borges und Manuel Puig, reicht, wie sie einst erklärte. In ihrer hoch reflektierten und scharf beobachtenden, kühlen Sichtweise stellte sie schon früh manche Standardvorstellungen zu Gender-Kategorien oder «weiblichem» Schreiben infrage und spottete 1983: «Ich kann das Wort ‹Frauenliteratur› schon nicht mehr hören. Eine ‹Männerliteratur› gibt es mittlerweile immer noch nicht . . .»
Nicht nur damit war Mieko Kanai ihrer Zeit weit voraus. Inzwischen zählt sie zu den wichtigsten literarischen Stimmen ihres Landes. Dennoch ist sie sich der Verwurzelung in einheimischen Schreibweisen durchaus bewusst und hebt als Anregerin Taeko Kono (1926–2015) hervor, die Autorin von «Knabenjagd» und «Riskante Begierden».
Das Erstaunliche an der japanischen Gegenwartsliteratur ist nämlich, dass sie spätestens seit den fünfziger Jahren mit einer stetig wachsenden Schar an Autorinnen glänzt, die die literarische Landschaft mit wahrlich kühnen Entwürfen nach und nach umgestaltet haben. Da gibt es für uns noch jede Menge Entdeckungen zu machen, denn Kanai steht nicht etwa am Anfang, sondern gewissermassen mittendrin.
Die hierzulande populären Texte der jüngsten Generation sind auf den Schultern so mancher Riesinnen entstanden. Zu ihnen gehört zweifellos auch Mieko Kanai. Ihre Meisterschaft zeigt sich in der scheinbaren Beiläufigkeit der verdichteten Bewusstseinsbilder, ihrer natürlich erscheinenden Unmittelbarkeit – eine leise Literatur ohne Zeigegesten oder Botschaften.
Umso eindrücklicher prägen sich beim Lesen gerade die unscheinbaren, aber von Scharfsinn, gut dosierter Ironie und feinem Humor unterfütterten Mini-Konflikte und Nano-Dramen ein, auch blitzartig eingeschobene Gedankenkommentare in der Kakofonie der Stimmen bei zufällig mitgehörten Schüler- und Alte-Damen-Gesprächen in der U-Bahn. Das ist unverwechselbar grossartige Literatur. Man könnte auch ausrufen: Wir haben es mit einer japanischen Virginia Woolf für das 21. Jahrhundert zu tun!
Mieko Kanai: Leichter Schwindel. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Bibliothek Suhrkamp 1556, Berlin. 175 S., Fr. 34.90.
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