Nackig geht nicht mehr! Die neuen Regeln der Filmfestspiele in Cannes sind sexistisch

Am Dienstag (13. Mai) starten zum 78. Mal die Internationalen Filmfestspiele von Cannes – und das mit einem deutlich verschärften Dresscode. Auf der offiziellen Festival-Webseite heißt es nun, dass „Nacktheit auf dem roten Teppich sowie in allen anderen Bereichen des Festivals aus Gründen des Anstands verboten“ ist. Wer sich nicht daran halte, soll vom roten Teppich ausgeschlossen werden.
Die Vermutung liegt nahe, dass die neue Regelung eine Reaktion auf den Trend zum sogenannten Naked Dress ist – Kleider, die mit transparenten Stoffen oder freizügigen Schnitten spielen also. Dabei gab es doch in der Vergangenheit viele Auftritte, auch in Cannes, die zeigten, wie schön, wie elegant dieser Stil interpretiert werden kann.
Im vergangenen Jahr zum Beispiel erschien Bella Hadid in einem durchsichtigen Neckholder-Kleid mit feinen Drapierungen von Saint Laurent. Davor hatte etwa Irina Shayk ein Bikercore-inspiriertes Lederkleid, das obenrum kaum mehr als die Brüste bedeckte, der aufstrebenden Designerin Mowola Ogunlesi getragen.

Und abseits von Cannes gilt längst auch Kate Moss’ Auftritt in einem schimmernden, transparenten Jean-Louis-Kleid bei einer Party in den 1990ern als stilprägende Referenz: Dieser Look war nicht nur ein modisches Statement, sondern kam für viele Beobachterinnen und Beobachter auch einem Akt der Selbstermächtigung gleich – eine Rebellion gegen den sexualisierenden Male Gaze.
Kristen Stewart rebelliert schon 2018 gegen Dresscodes in CannesZurück zu Cannes: Dort sind die Kleidervorschriften schon lange aus der Zeit gefallen. Flache Schuhe zum Beispiel waren bis zum vergangenen Jahre für weibliche Filmfestgäste streng verboten. Eine Regel, gegen die 2018 Kristen Stewart aufbegehrte: Auf dem roten Teppich in Cannes zog sie ihre High Heels demonstrativ aus und lief einfach barfuß weiter. In einem Interview erklärte sie damals: „Wenn man Männern nicht vorschreibt, High Heels und ein Kleid zu tragen, kann man mir das auch nicht vorschreiben.“
Mittlerweile werden laut Webseite in Cannes auch „ausladende Kleidungsstücke“, insbesondere allzu opulente Kleider mit langer Schleppe nicht gern gesehen. Es ist also nicht nur zu wenig Stoff, sondern auch zu viel Stoff verboten. Stattdessen „erlauben“ die Veranstalter klassische, konservative – und mithin eher langweilige Mode. Abendrobe, dunkler Hosenanzug oder „ein elegantes Oberteil“ mit schwarzer Hose für Frauen; dunkler Anzug für Männer.
Gerade aktuell sollte ein Kulturevent auch Freiräume schaffenDass ein bisschen Haut oder eine große Schleppe in Cannes als „anstößig“ gescholten wird, sagt ganz schön viel aus über die sexistische Denkweise der Regelmacher. Das Ganze wirkt, gelinde gesagt, ganz schön absurd – vor allem in einer Zeit, in der gerade Kulturfestivals das Potenzial hätten, für Offenheit und Wandel zu stehen, und eben nicht für veraltete Dresscodes und Rückschrittlichkeit. Dabei ist es gerade angesichts aktueller politischer Entwicklungen – etwa Trumps rückwärtsgewandter Politik in den USA oder der Erstickung der Frauenproteste im Iran – wichtiger denn je, Räume für eine freie weibliche Selbstinszenierung zu schaffen.

Zudem verhindern die neuen Regeln schlichtweg Auftritte großer modischer Strahlkraft. Etwa jener von Elle Fanning, die 2023 in einem skulpturalen Kleid mit funkelnder, märchenhafter Schleppe erschien. Schade für die Modewelt, dass ihre Kreativität ausgerechnet bei einem der wichtigsten Events des Jahres nun noch mehr beschnitten wird – genau dort, wo die Zuschauerinnen und Zuschauer eigentlich staunen, inspiriert und verzaubert werden wollen. Aber dafür braucht es eben Freiheit. Und genau die wird beim heutigen Auftakt des Filmfests fehlen.
Übrigens kommentiert der Instagram-Account @stylenotcom das Ganze sehr passend: „Some of the stars were already wearing nothin’, but now they have literally nothing to wear“ („Einige der Stars mögen vorher fast nichts getragen haben, aber jetzt haben sie buchstäblich nichts zum Anziehen.“) Liebe Leute in Cannes – wir sind enttäuscht!
Berliner-zeitung