30 Jahre jung – und schon pflegebedürftig

An sein erstes Beratungsgespräch nach Start der sozialen Pflegeversicherung vor 30 Jahren kann sich Thorsten Schumacher (58) noch gut erinnern.
Eine ältere Dame, berichtet der frühere Pflegeberater und heutige Fachexperte für außerklinische Intensivpflege bei der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK), habe bei ihm einen Antrag auf Bewilligung einer der drei Pflegestufen eingereicht.
Die Erwartungshaltung der Frau sei groß gewesen. Kein Einzelfall. „Als das Gesetz eingeführt wurde, war für viele Menschen wichtig: Ich zahle über Jahre in die gesetzliche Krankenversicherung ein, jetzt will ich auch etwas davon haben.“
Vielen sei nicht klar gewesen, dass die Pflegeversicherung eine eigenständige Säule im Sozialversicherungssystem ist und daraus keine Leistungen der Krankenversicherung erbracht werden.
Die Geschichte der älteren DameDie ältere Dame, erzählt Schumacher, habe nach der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst, damals MDK, zunächst keine Pflegestufe erhalten. Sie habe das nicht verstehen können, da viele ihrer Bekannten mit vermeintlich weniger Einschränkungen eine Pflegestufe bekommen hätten. Und sie nicht!?
In dieser Situation seien „viel Beratung, Aufklärung und Zuhören“ nötig gewesen – was sich bis heute nicht geändert habe. Als sich der Gesundheitszustand der Frau später weiter verschlechtert habe, sei eine Pflegestufe bewilligt worden.
Heute, drei Jahrzehnte später, wird nicht mehr nach Pflegestufen, sondern nach fünf Pflegegraden eingruppiert. Die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst ist immer noch Voraussetzung dafür, dass Versicherte Leistungen aus dem inzwischen knapp 70 Milliarden Euro schweren Topf der sozialen Pflegeversicherung erhalten.
Die Begutachtung kann mittlerweile auch per Telefon erfolgen. Es handele sich um eine „sinnvolle Alternative“ – vor allem bei Nachbegutachtungen, sagt SBK-Experte Schumacher. Erfahrungen in der Corona-Zeit belegten das.
Begutachtung auch per Telefon möglichEin Vorteil sei, dass ein Begutachtungstermin schnell und flexibel stattfinden könne und Pflegebedürftige nicht so viel zusätzlichem Stress ausgesetzt seien wie beim Hausbesuch. Der Nachteil: „Der Gutachter kann sich kein persönliches ganzheitliches Bild machen und die Wohnsituation nicht berücksichtigen.“
Bei der Einstufung orientiert sich der Medizinische Dienst nicht mehr an der geschätzten Zeit, die es für Pflege braucht, sondern am Grad der Selbstständigkeit und der Fähigkeit des potenziell Pflegebedürftigen, alltägliche Aufgaben noch aus eigener Kraft zu bewältigen.
Inzwischen werden bei der Begutachtung auch dementielle und psychische Erkrankungen berücksichtigt. Zum Start der Pflegeversicherung waren diese Krankheiten außen vor – aus Kostengründen. Der Beitragssatz zur Pflege sollte die Sozialabgaben nicht weiter hochtreiben.
Statistiker zählen aktuell rund 5,6 Millionen Pflegebedürftige. Das Gros (90 Prozent) lebt laut einem Report des MD Bund zu Hause. Die meisten pflegebedürftigen Versicherten (57,4 Prozent) beantragten zuletzt Pflegegeld.
Knapp zwölf Prozent beantragten ambulante Leistungen, gut 20 Prozent Kombinationsleistungen aus Pflegegeld und Sachleistungen. Lediglich 10,2 Prozent stellten einen Antrag auf vollstationäre Pflege.
Schon 2025 könnte die Zahl der Pflegebedürftigen bei mehr als sechs Millionen Leistungsempfängern liegen. Der MD Bund berichtet, dass allein 2024 drei Millionen Menschen begutachtet wurden.
Steigende Ausgaben, sinkende EinnahmenLaut Statistischem Bundesamt ist die starke Zunahme der Pflegebedürftigen einerseits auf die Alterung der Gesellschaft, andererseits auf den seit 2017 – mit Inkrafttreten des zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) – deutlich weiter gefassten Pflegebedürftigkeitsbegriff zurückzuführen.
Die Demografie schlägt bei der Pflege doppelt zu – und setzt die Politik unter ständigen Reformdruck. Eine „große Errungenschaft“ sei die schrittweise Einführung der sozialen (SPV) und der privaten Pflegeversicherung (PPV) 1995 dennoch gewesen, sagt SBK-Experte Schumacher. Ein Zurück in die Zeit vor Einführung könne niemand ernsthaft wollen.
Die fast 20 Jahre dauernde Entstehungsgeschichte der Pflegeversicherung unter dem früheren Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU) und seinem Staatssekretär Karl Jung hat Schumacher aufmerksam verfolgt. Am Ende habe „etwas Großes“, etwas „Notwendiges“ gestanden, findet Schumacher.
Die „Errungenschaft“ vor 30 Jahren lautete: Die soziale Pflegeversicherung deckt über das Umlagesystem eine pflegerische Grundversorgung ab. Um die Kosten auf Arbeitgeberseite zu kompensieren, wird der Buß- und Bettag als Feiertag gestrichen – mit Ausnahme Sachsens.
Pflege als hochsensible MaterieEin Kernziel der Pflegeversicherung bis heute ist: Menschen sollen nach einem langen Arbeitsleben, in Folge einer schweren Erkrankung oder eines Unfalls nicht wegen Pflegekosten auf „Stütze“ – „Hilfe zur Pflege“ – angewiesen sein. Pflegende Angehörige sollen ein Mindestmaß an Absicherung erhalten.
Schon damals wurde über Kapitaldeckung und Vollkaskoversicherung kontrovers diskutiert. Nach zähem Ringen – koalitionsintern und mit den Ländern – entschied sich das schwarz-gelbe Bundeskabinett unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) für das Teilkaskoprinzip.
Das Prinzip gilt bis heute – trotz zahlreicher Umbauten am und im Sozialgesetzbuch XI. Sage und schreibe 90 Änderungsgesetze werden seit 1995 gezählt.
Aber: „Dass die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung ist, haben die meisten Menschen noch nicht wirklich verinnerlicht“, sagt Franziska Beckebans, Bereichsleiterin Kundenmanagement und Versorgung bei der SBK.
Ältere sehen großen HandlungsbedarfBeckebans spricht von einem „Tabuthema, solange es nicht aktuell ist und jemanden betrifft“ – sei es als Pflegebedürftiger oder Angehöriger. Nötig sei mehr Aufklärung, zumal das Thema Pflege den Menschen auf den Nägeln brenne. Mit den heranrollenden rund 20 Millionen „Babyboomern“ verschärften sich die Herausforderungen nochmals.
Das Prekäre: Unter den „Babyboomern“ befinden sich auch Hunderttausende Ärzte und Pflegekräfte – also exakt jene, die sich heute um die Schar der Pflegebedürftigen kümmern und deren Versorgung in Heimen und der Häuslichkeit sicherstellen. Kurzum: Die Helferinnen und Helfern von heute können absehbar Hilfesuchende von morgen werden.
Aus einer Umfrage unter rund 2.340 Befragten des Instituts „YouGov“ im Auftrag der SBK geht derweil hervor: 85 Prozent stufen die Pflegeversorgung und mit ihr die Pflegefinanzierung als dringliche Themen ein. Vor allem Ältere (75 Prozent) sehen hier Handlungsbedarf.
Dass knapp alle Befragten über 70 Reformbedarf ausmachen, lasse sich vermutlich auch damit erklären, dass diese sich bereits stärker mit Pflegeplätzen und Eigenanteilen beschäftigt hätten, sagt Beckebans.
Mit Prävention gegen Pflegebedürftigkeit85 Prozent der Frauen wünschten sich, dass es mehr Unterstützung pflegender Angehöriger gibt. Bei den Männern seien es 78 Prozent – diese pflegen statistisch seltener als Frauen. „Das Thema informelle Pflege gehört daher – neben der Heimpflege und den steigenden Eigenanteilen – in den Fokus der Reformdebatte“, betont Beckebans.
Es brauche flexibel zu nutzende Hilfsangebote. Etwa in Form eines Pflegebudgets, das Leistungen wie Verhinderungspflege oder Kurzzeitpflege zusammenbindet und das Bedürftige je nach Bedarf nutzen können.
Im Koalitionsvertrag von Union und SPD ist die Idee aufgegriffen. Freilich: Ob es zur Umsetzung kommt, ist ungewiss. In der Vergangenheit scheiterte das Ansinnen wiederholt.
Mehr Aufmerksamkeit wünschen sich Kassenvertreter auch für junge Menschen, die mit der Herkulesaufgabe Pflege konfrontiert sind. Laut AOK-Bundesverband werden aktuell rund 480.000 Jugendliche im Alter zwischen zehn und 19 Jahren gezählt, die Angehörige pflegen. Das sind mehr als sechs Prozent in der genannten Altersgruppe.
„Veränderungen statt Flickschusterei“SBK-Managerin Beckebans hält überdies mehr Präventionsangebote für nötig, um Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder hinauszuzögern. Auch über mehr Anreize für eine ergänzende private Absicherung im Pflegefall sei nachzudenken.
Zu berücksichtigen sei aber, dass sich viele solche Policen nicht leisten könnten. Eines jedoch sei klar: „Wir können das System nicht so lassen, wie es ist“, sagt Beckebans.
Tatsächlich brennt es im Haus der sozialen Pflegeversicherung lichterloh. Allein für 2024 meldet der GKV-Spitzenverband ein Defizit von 1,54 Milliarden Euro. Der BKK Dachverband geht für dieses Jahr von einem Finanzloch von knapp 1,7 Milliarden Euro aus – die DAK-Gesundheit prognostiziert ähnlich. Das Finanzloch für das Jahr 2026 taxiert die DAK sogar bei 3,5 Milliarden.
Die jüngste Beitragssatzanhebung zu Jahresbeginn 2025 um 0,2 Prozentpunkte – bereits Mitte 2023 waren die Pflegebeiträge gestiegen – reicht laut Kassen höchstens aus, um kurz Luft zu holen.
DAK-Chef Andreas Storm spricht von Krise – und fordert kurzfristige Finanzhilfen aus dem Steuersäckel. Auch um Coronakosten in Höhe von rund 5,2 Milliarden Euro zu kompensieren.
„Es wird höchste Zeit, die Finanzen der SPV nachhaltig zu stabilisieren, denn die Pflegeversicherung ist chronisch unterfinanziert“, mahnt auch AOK-Chefin Dr. Carola Reimann. Nötig sei eine Kombination aus kurzfristigen Sofortmaßnahmen und dauerhaften Finanzierungslösungen.
PKV: Ausweitung der Steuerfinanzierung keine LösungPassiert nichts, könnten laut BKK Dachverband nochmals um 0,15 bis 0,2 Beitragspunkte obendrauf kommen. Sorgen um die soziale Pflegeversicherung machen sich auch die Privatversicherer – vor allem, weil der jüngste Sozialversicherungszweig die Abgaben stark nach oben treibe.
Überproportional betroffen von steigenden Sozialabgaben seien Jüngere, heißt es beim PKV-Verband. So müsse ein 2010 Geborener im Laufe seines Lebens durchschnittlich fast ein Drittel mehr Sozialbeiträge zahlen als ein 1960 Geborener.
Als Lösung der Misere präsentieren die Privaten einen „Neuen Generationenvertrag für die Pflege“ (NeuGV). Mit diesem Konzept lasse sich die Pflegeversicherung langfristig stabil und generationengerecht finanzieren. Sogar eine sofortige Senkung des Beitragssatzes von mehr als 0,4 Prozentpunkten sei möglich.
Dazu seien allerdings die Zuschüsse der Kassen nach Paragraf 43c SGB XI zu den Eigenanteilen in Pflegeheimen zu streichen: „Der NeuGV ist nicht nur generationengerechter, sondern auch verteilungspolitisch gerechter, weil es sicherstellt, dass die Mittel- und Oberschicht ihr Altersvermögen im Pflegefall einsetzen muss und sich nicht von Geringverdienern subventionieren lässt.“
Freilich: Ohne mehr kapitalgedeckte Vorsorge und Eigenverantwortung lasse sich die Pflegeversicherung nicht zukunftsfest aufstellen, sagt PKV-Chef Dr. Florian Reuther. „Eine Ausweitung der Steuerfinanzierung ist keine nachhaltige Lösung.“
Mammutaufgabe für die Neue im BMGDass der Druck wächst, weiß die neue Gesundheitsministerin Nina Warken. Das Pflegesystem solide aufzustellen, gleiche einer „Mammutaufgabe“, hat die CDU-Politikerin in ihrer ersten Regierungserklärung eingeräumt.
Um sie zu stemmen, will die Koalition „mehrgleisig“ fahren: Kurzfristig seien Vorschläge zu erwarten, wie man den Pflegekassen „über den Jahreswechsel hinaus Spielraum“ verschaffen könne. Mittel- und langfristig solle der große Reformwurf gelingen, so Warken.
SBK-Vorstandschefin Dr. Gertrud Demmler begrüßt die Ankündigungen – betont aber: „Ich hoffe auf echte Veränderungen statt Flickschusterei.“ Die soziale Pflegeversicherung – wie das Gesundheitssystem generell – bräuchten eine „klare Vision und konkrete Reformen“, sagt Demmler. „Wir dürfen keine weitere Wahlperiode verstreichen lassen.“
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