Aus der Euphorie in die Erschöpfung: Der phänomenale Pianist Keith Jarrett wird 80


Keith Jarrett ist grossartiger Musiker und einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart. Allein, er kann nicht mehr spielen, weil der Körper nicht mehr mitspielt. 1996 bereits litt er an einem Fatigue-Syndrom, monatelang kam er vor Müdigkeit kaum mehr aus dem Bett. Dann aber kämpfte er sich zurück an den Flügel, zurück auch ins Rampenlicht, um wieder zu begeistern: in Solo-Rezitals oder im Trio mit den Freunden Gary Peacock am Bass und Jack DeJohnette am Schlagzeug. Der Triumph dauerte bis 2018, als er zwei Schlaganfälle erlitt. Seither ist die linke Seite seines Körpers partiell gelähmt.
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Ob die Apoplexie in seinem Fall auf Überanstrengung zurückzuführen ist, bleibt fraglich. An der körperlichen Verausgabung des Pianisten hingegen besteht kein Zweifel. Die Ärzte hatten ihn längst gewarnt. Seine ständigen, unkontrollierten Verrenkungen am Piano seien eine Gefahr für Rücken, Nacken, Gelenke. Und gewiss ahnten sie auch, dass die kompromisslose Hingabe an die Musik den Energiehaushalt des Musikers strapazierte.
Keith Jarrett wusste es auch selbst: «It’s not a healthy thing to do», so kommentiert er sein passioniertes, körperbetontes Spiel in «The Art of Improvisation» (2005), einem sehr aufschlussreichen Dokumentarfilm über seine Karriere. Aber ändern konnte er sich nicht. Mit blitzenden Äuglein, den Mund unter dem graumelierten Schnäuzchen zu einem schelmischen Grinsen verzogen, meint er im Film: «They’re just doctors, what do they know?» Sie wissen etwas vom Leiden. Aber was wissen sie von seiner Leidenschaft?
Können und kämpfenEin erstaunlicher Widerspruch prägt Keith Jarretts Karriere, seit sich sein unvergleichliches musikalisches Talent offenbart hat. Einerseits fällt ihm alles leicht. Es gibt kaum eine musikalische Herausforderung, der er nicht gewachsen wäre dank seiner musikalischen Vorstellungskraft, seinem Gehör und seinen virtuosen Fingern. Und doch ist er stets am Kämpfen – nicht nur mit körperlichen Limits, sondern auch mit der Qualität seiner Instrumente und mit der Akustik von Konzertsälen. Vor allem aber mit den eigenen Idealen und Ansprüchen.
Er tanzt von einem Stil zum andern, vom Jazz zur Klassik und wieder zurück. Er hat sich auch als Bach-, Mozart- und Schostakowitsch-Interpret behauptet. Aber sein Können kulminiert in der Improvisation, wo er Impulse und Inspirationen aus Swing, Gospel, Bebop und Country derart moduliert, dass sie seinen hohen formalen Ansprüchen gerecht werden. In der Improvisation sind die widerstrebenden Tendenzen seiner Musikalität dialektisch vereint: Er kann alles spielen, versucht aber alles zu vergessen, um Neues zu schaffen aus dem Nichts.
Man kann diesen hohen Anspruch als Romantizismus und als Geniegehabe deuten und wird dabei nicht fehlgehen. Keith Jarrett hat sich einerseits gestenreich als Künstleroriginal und als musikalischer Demiurg in Szene gesetzt, um sich von den Niederungen biederer menschlicher Normalität abzusetzen. So zeigte er wenig Verständnis für jene Störefriede, die das Hüsteln oder Schnäuzen nicht unterdrücken konnten im Konzertsaal; nicht selten unterbrach er seinen Auftritt mit einer Schimpftirade.
Aber das übersteigerte Konzept improvisatorischer Kunstschöpfung keimte andrerseits auf dem lockeren Boden naiver Sehnsucht und Nostalgie. Es erinnerte ihn an die glücklichen Kindertage, als er, nichtswissend von Kultur und Tradition, mit seinen Händen erstmals Musik aus der Klaviatur zauberte und sich freute an stimmigen Terzen und Kindermelodien. Die Umgebung feierte ihn gleich als Wunderkind.
Am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren, entdeckte er als Zweijähriger zunächst den Rhythmus. Mit Tischbesteck soll er seine Grooves getrommelt haben. Im dritten Lebensjahr erhielt er bereits Klavierunterricht. Bisweilen versuchte er die Musik nachzuspielen, die am Radio gespielt wurde, dann wiederum imitierte er Klänge und Geräusche aus der Natur – etwa das Plätschern eines Bachs. Auf diese Weise habe er zu improvisieren gelernt, meint er in «The Art of Improvisation».
Hiroyuki Ito / Hulton / Getty
Allerdings störte er sich schon als Kind an seinen körperlichen Beschränkungen. Die Hände waren noch zu klein. Um dem entgegenzuwirken, soll er die Finger ständig Streck- und Dehnungsübungen unterzogen haben. Tatsächlich half ihm das, später mit Leichtigkeit und Ausdauer grosse Intervalle zu greifen und in Ostinato-Figuren jene sinnliche Inbrunst zu erzeugen, die charakteristisch sind für legendäre Keith-Jarrett-Alben wie das «Köln Concert» (1975).
Keith Jarrett war ein Improvisator, noch bevor er sich im Jazz etablierte. Aber Jazz erwies sich als die Musik, die seinem musikalischen Talent am besten entsprach. Einem Klavierstudium bei der namhaften Pädagogin Nadia Boulanger in Europa zog er deshalb den Besuch der Berklee Jazz-Akademie in Boston vor. Seine Karriere lancierte er mit Engagements in stilbildenden Bands des Drummers Art Blakey, des Saxofonisten Charles Lloyd und des Trompeters Miles Davis. Später profilierte er sich als Bandleader eines amerikanischen und eines europäischen Quartetts – Formationen, in denen er auch Saxofon sowie diverse Flöten und Perkussionsinstrumente spielte.
Dank hymnischen Melodien und rockig-funkigen Rhythmen erreichten die Jazzformationen von Charles Lloyd und Miles Davis in den siebziger Jahren das grosse junge Rockpublikum. Und wenn dieses sah, wie sich Jarrett mit geschlossenen Augen und verzücktem Gesicht drehte und wand vor der Klaviatur, um ab und zu in die Knie zu gehen und sich wieder aufzurichten, stampfend und stöhnend, war es wenig erstaunt: Die physische Performance passte in das Setting der Rockkultur, die in übertriebenen körperlichen Gesten die orgiastische Wirkung der Musik unterstrich.
Aber auch wenn Keith Jarrett später in den grossen Konzertsälen als virtuoser Solokünstler auftrat, konnte er sich in musikalischer Verzückung nie von den physischen Zuckungen befreien. Man mochte sich fragen, ob der Pianist in geistiger Konzentration die Kontrolle über den Körper verlor oder ob in seinem Spiel Körper und Geist so eng vereint waren, dass jede Synkope und jede Blue Note sich sofort auf den Bewegungsapparat auswirkte.
Keith Jarrett selber hat sich einmal als Bauchredner charakterisiert, der gleichzeitig auch die Puppe verkörpern müsse. Deshalb vielleicht erscheinen ihm die eigenen Glieder bisweilen wie eine äusserliche Gerätschaft, die dem Piano mindestens so nahe ist wie dem Pianisten. Diesen Eindruck erweckt er jedenfalls, wenn er von einer Hand in der dritten Person Singular spricht: «My left hand actually had knowledge that I wasn’t letting it tell me for years and years», erklärt er in «The Art of Improvisation» – er habe seiner linken Hand jahrelang keine Gelegenheit gegeben, um ihm ihr besonderes Wissen mitzuteilen.
Das Gestöhne, das Keith Jarretts musikalische Inbrunst stets begleitete, konnte einen durchaus stören. Es zeigte aber, wie sehr sich Keith Jarrett verausgabte als pianistischer Bauchredner. Dass sich die künstlerische Überanstrengung schliesslich zu einer physischen Sackgasse auswuchs, war tragisch – aber nicht ganz unerwartet. Der zehrende Anspruch, immer wieder Neues zu schaffen, und der Erwartungsdruck des Publikums haben schon diverse Jazzmusiker in einen Zustand der Erschöpfung und Apathie befördert.
So ähnlich wie Keith Jarretts Fatigue-Syndrom der neunziger Jahre verlief etwa auch eine Krise im Leben von Miles Davis. Der damals 49-jährige Trompeter zog sich 1975 erschöpft, müde sowie an Leber- und Hüftproblemen leidend für fünf Jahre in seine Wohnung in New York zurück. Und 1976 hörte der stilbildende Bebop-Pianist Thelonious Monk im Alter von bloss 59 Jahren auf zu spielen und zu sprechen. Einsam, stumm und untätig hat er die letzten sechs Jahre seines Lebens in der Villa seiner Mäzenin Baronesse Nica de Koenigswarter verbracht.
Keith Jarrett gibt gelegentlich immerhin Interviews. Vor zwei Jahren stellte er sich den Fragen des amerikanischen Youtube-Musikpublizisten Rick Beato und erzählte, dass er mit der rechten Hand bisweilen noch ein bisschen auf den Klaviertasten herumklimpere. Dann spielte ihm Beato den Mitschnitt eines Konzerts von 1987 in Japan vor. Jarrett improvisierte darin über den Jazzstandard «Solar». Das phänomenale Solo ist von solch stupender Virtuosität und Variabilität, dass auch Keith Jarrett zufrieden lächelte beim Zuhören. Zuletzt meinte er nur: «Ich glaube, ich hatte damals noch mehr Hände.»
nzz.ch