Pirelli Breuberg: Wie im Odenwald die Zukunft der Premium-Reifen entsteht

Nur 60 Kilometer von Frankfurt im stillen Odenwald wird Tag für Tag in drei Schichten daran gearbeitet, die Fahrt mit dem PKW (oder dem Motorrad) sicherer und smarter zu gestalten. In Breuberg produziert Pirelli rund um die Uhr seine legendären Reifen. Neben dem Stammsitz Mailand ist die Fabrik in Südhessen der wichtigste Entwicklungsstandort von Pirelli in Europa.
Unser Kontakt zur heimischen Automobilindustrie ist auf technologischem wie auf kommerziellem Gebiet sehr eng“, erzählt Pirellis Deutschland-Chef Wolfgang Meier dem Top Magazin. „Hier liegt unser Kernmarkt.“ Die Edelmarken Porsche, Audi, Mercedes und BMW vertrauten bei der Erstausrüstung auf traditionell gute Qualität. Und auf die enge Kooperation mit Breuberg. Hinzu komme die Wertschätzung durch die privaten Endkunden.
Insgesamt kann das Unternehmen aus Italien über 4.200 „Homologationen“ vorweisen. So oft bestätigten Fahrzeughersteller nach sorgfältiger Prüfung, dass die Pirelli-Reifen optimal mit einem neu herausgebrachten Modell abgestimmt sind. Pirellis Elect-Reifen für E-Automobile haben besonders eingeschlagen. Mehr als 800 Homologationen gibt es allein auf diesem Feld.

In der Konzernzentrale forschen Ingenieure am Cyber Tyre, der mit intelligenter Sensortechnologie arbeitet: Fahrzeug- und Reifendaten werden so miteinander verkoppelt, dass auf den gemeldeten Straßenzustand angemessener reagiert werden kann. Fachleute versprechen sich davon einen erheblichen Zuwachs an Sicherheit und Anstöße für eine sicherere Verkehrsinfrastruktur. Am Horizont erscheint die Vision eines Connected-Car-Ökosystems untereinander verbundener Fahrzeuge.
Das Unternehmen aus der Lombardei war schon immer findig. Und ist deshalb auch im Motorsport höchst erfolgreich. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts fuhr man mit Pirelli bei Langstreckenrennen um die halbe Erde zum Sieg. Mittlerweile liefert man exklusiv die Reifen für die Formel 1.
„Wir wollen Performance mit Nachhaltigkeit verknüpfen und investieren in moderne Technologien, um den Planeten zu bewahren und wettbewerbsfähig zu bleiben.“ – Wolfgang Meier, CEO Pirelli Deutschland
Erfindungsgeist und soziale Verantwortung gehören zur DNA. „Luxus definiert sich heute nicht nur über Exklusivität“, sagt Meier. Der Unterfranke ist seit 2021 CEO der Pirelli Deutschland GmbH. Der Auftrag ist klar: „Wir wollen Performance mit Nachhaltigkeit verknüpfen und investieren in moderne Technologien, um den Planeten zu bewahren und wettbewerbsfähig zu bleiben.“
Pirellis klares Bekenntnis zum Standort BreubergDer Fokus liegt in Breuberg auf den Premium-Reifen mit einem Durchmesser von 18 bis 24 Zoll. „Weil wir werthaltige Produkte herstellen, können wir die Produktion trotz der höheren Kosten hier halten“, stellt der sportliche Manager fest, der gern Ski und Rennrad fährt. „Wir sind ein Prestige-Hub und müssen technisch vorn sein.“
„Wir sind ein Prestige-Hub und müssen technisch vorn sein.“ – Wolfgang Meier, CEO Pirelli Deutschland
Insgesamt erzielt das Unternehmen mit weltweit gut 31.000 Mitarbeitern rund 75 Prozent des Umsatzes im High-Value-Segment. Das hat sich auch 2024 wieder ausgezahlt, wie die schwarzen Zahlen bei Konzernumsatz und Nettogewinn belegen. Natürlich weiß Wolfgang Meier, dass die Zeiten nicht zuletzt aufgrund der Weltpolitik unberechenbarer geworden sind. „Wir bleiben aber auf Kurs“, versichert er.

Pirelli hatte 1963 die Veith Gummiwerke in Breuberg übernommen, ein Reifenstandort seit 1903. Mit den Italienern gelang ein gewaltiger Entwicklungssprung. Der CEO, ein gebürtiger Aschaffenburger, hebt den besonderen „Pirelli-Geist“ hervor. Mitunter arbeiteten gleichzeitig drei Generationen aus einer Familie in den Hallen und Büros des in Teilen mehr als 100 Jahre alten Komplexes. Pirelli sei mit der Region stark verwurzelt. „Die Mitarbeiterfluktuation ist bei uns ausgesprochen niedrig.“ Auch bei der Ausbildung engagiert sich das Unternehmen. Alle Azubis werden übernommen.
Bei Pirelli trifft Hightech-Produktion auf ÖkologieGerade steckt man rund 25 Millionen Euro in den Umbau der Reifenpressen auf E-Betrieb, vor allem um deren Energiebedarf um bis zu 80 Prozent zu senken. Man rüstet sich für die Herausforderungen eines umkämpften Markts. Pirelli pflegt gleichzeitig Kultur und Ambiente und hat den Zeitgeist stets erfasst. Den berühmten Pirelli-Kalender gibt es im November. Wie immer gestaltet von einem herausragenden Fotografen. Nur mit weniger nackter Haut als früher. Damit wir verstehen, wie das Bauen eines Reifens funktioniert, machen wir nun erst mal einen Rundgang durch das Werk. Wir gelangen zu einer der über 120 Heizpressen, die hoch emporragen. Es riecht ein bisschen.

Hier werden die Rohlinge vulkanisiert. Unter Druck und bei Temperaturen um 170 Grad verwandelt sich der Kautschuk zusammen mit den anderen Komponenten in einen ausgehärteten Reifen. Zum Schluss wird das Profil eingepresst. Der beigemischte Schwefel macht das Gummi formstabil, elastisch und widerstandsfähig gegen Hitze und Kälte.
CO2-Neutralität und nachhaltige MaterialienDie Umstellung der Vulkanisierpressen auf Ökostrom hat schon begonnen. 2027 soll die Gasturbine endgültig abgeschaltet werden. Pirelli hat sich verpflichtet im Jahr 2030 das Ziel der CO2-Neutralität zu erreichen. In fünf Jahren soll der Anteil an recycelten und biobasierten Materialien bei den besten Produkten bei 80 Prozent liegen.
Der benötigte Naturkautschuk wird schon ab 2026 ausschließlich das Gütesiegel des Forest Stewardship Council (FSC) für nachhaltige Forstwirtschaft tragen. Daneben ist synthetischer Kautschuk im Einsatz. Umweltabträgliche Stoffe möchte man so schnell wie möglich ersetzen.
Rezeptur und Präzision sind entscheidendDas Herstellen von Reifen ähnelt dem Kuchenbacken. Es kommen viele Zutaten bei der Produktion zusammen. Die Rezepte unterscheiden sich je nach Reifentyp. Das erfordert chemisches Know-how, ausgeklügelte Logistik und eine Menge Fingerspitzengefühl. Auch das Timing am Ofen muss stimmen. Praktisch jedes Automodell ist mittlerweile mit einem anderen Satz Reifen ausgestattet, der auf die jeweiligen Fahreigenschaften zugeschnitten ist. Die wichtigsten Daten werden in einer Kombination aus Zahlen und Buchstaben auf der Reifenflanke als Spezifikation festgehalten.

Die Reifenproduzenten hüten ihre Geheimnisse. Die Materialzusammensetzungen, aber auch die Maschinenentwicklungen sind top secret. Auch bei Pirelli. Die Aufgaben sind komplex. Und dennoch geht es in der Fabrik ruhig und unaufgeregt zu. Wir kommen zu einer 60 Meter langen Produktionsstraße – ein Prototyp für die Herstellung von Stahlgürteln. Sie werden in die Reifen integriert, um Stabilität und lange Haltbarkeit zu sichern. Stahlgürtel machen die Lauffläche widerstandsfähiger gegen Schnittschäden und unterstützen bei hoher Geschwindigkeit die Formstabilität. Straßenlage, Grip und Bremswege werden verbessert. Die neue Anlage ist sehr kompakt. Nun steht in einer Halle, was zuvor auf drei Hallen verteilt war.
Pirelli Virtual Development Center als Herzstück der ForschungCEO Wolfgang Meier schaut zuversichtlich in die Zukunft: „Pirelli hat sich immer wieder neu erfunden – und diese neue Produktionsstraße ist ein starkes Beispiel dafür. Effizienz und Präzision sind entscheidend, wenn es um Premiumreifen für Luxuslimousinen und Sportwagen geht. Der Markt bestätigt diesen Anspruch: Unsere Reifen stehen für maximale Qualität, Sicherheit und Performance.“
Die Pirelli-Gruppe ist mit ihren 3.000 Mitarbeitern ein manchmal noch übersehener wichtiger Wirtschaftsfaktor im Rhein-Main-Gebiet. 2.500 Männer und Frauen sind allein in Breuberg beschäftigt, darunter 250 Ingenieure. Man ist der größte Arbeitgeber im Odenwald. 5,3 Prozent des Umsatzes fließen zurück in Forschung und Entwicklung. 2023 ist das Virtual Development Center (VDC) in Breuberg gegründet worden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Teams stehen in dauerndem Austausch mit ihren Kunden.

Das Kernstück bildet ein schwarzer Fahrsimulator, der wie ein Porsche aussieht. Ein Schalensitz gibt den Testfahrern Halt, um auf der Strecke – basierend auf Laserscans echter Fahrbahnen – die Reifen zu testen, die es noch gar nicht gibt. Sogar Lenkkräfte, Fahrgeräusche und Bewegungsreaktionen werden simuliert. Hinter dem Piloten sitzt der Ingenieur und checkt auf dem Computerbildschirm die einlaufenden Daten. Lenk-, Brems- und Beschleunigungsvorgänge können präzise nachvollzogen werden.
Kürzere Entwicklungszeiten dank Simulation„Es dauert drei Jahre, bis ein Reifen entwickelt ist“, konstatiert VDC-Leiter Florian Waffenschmidt. „Das erste Jahr sind wir inzwischen komplett virtuell unterwegs.“ In der Vergangenheit habe man schon im Frühstadium diverse Prototypen hergestellt, um die Reifen zu finden, die am besten passen. Das sei vorbei. Auch die Automobilhersteller tüfteln zunächst nur an virtuellen Modellen und beschreiben Pirelli in Lastenheften, was ihr Produkt können muss. „Wir verheiraten Fahrzeug und Reifen also erst mal im Computer, bevor es raus ins wahre Leben geht.“
Die Faustformel lautet: Zehn Paar Reifen für die Vorderachse und zehn Paar für die Hinterachse kommen in die engere Auswahl. Es wird virtuell analysiert, wie sie sich zueinander verhalten und ob sie mit der Technik des Wagens harmonieren. „Der Computer kann das viel schneller berechnen als Menschen“, konstatiert der 38-jährige. „KI spielt dabei eine immer bedeutendere Rolle.“
„Popometer“ bleibt unersetzlichDie daraus resultierenden besten Kombinationen werden zunächst im statischen Fahrsimulator bewertet. Im nächsten Schritt fertigt Pirelli Prototypen und erprobt sie auf einer wirklichen Teststrecke, beispielsweise auf dem Nürburgring. „Bis dahin haben wir 90 Prozent der Lösung schon gefunden.“ Dennoch sei menschliches Gespür entscheidend und Feintuning mit echten Prototypen unersetzlich. Vorder- und Hinterachse müssten sauber zusammenarbeiten. Der „Popometer“ helfe, das Fahrverhalten zu bewerten. Wenn die Entscheidung für den optimalen Reifensatz gefallen sei, beginne die Produktion, resümiert Waffenschmidt.
Die digitalen Tools liefert Mailand. Dort und in China befinden sich die beiden anderen Virtual Development Center des Konzerns. „Wir können uns zwischen den Standorten bewegen und uns die Arbeit aufteilen“, berichtet der Experte. Die hochmodernen VDCs hätten die Entwicklungszeit um 30 Prozent verkürzt. Die Zahl der Prototypen sei gleichzeitig um 30 Prozent zurückgegangen.
Grandezza zwischen Mailand und Frankfurt„Die Zusammenarbeit mit Italien ist sehr vertrauensvoll“, ergänzt CEO Wolfgang Meier. „Wir sind bei Pirelli im Top-Management operativ ausgerichtet.“ Der Austausch zwischen Breuberg und Mailand verlaufe in beiden Richtungen intensiv. Wolfgang Meier hat selbst 10 Jahre in Mailand gelebt und gearbeitet. Und das Leben dort genossen. „Dennoch ist es schön, nach mehreren Auslandsstationen mit der Familie wieder zu Hause zu sein“, findet der Vater zweier Töchter und eines Sohnes. Kultur und Grandezza könne auch das nahe Frankfurt bieten. „Im Rhein-Main-Gebiet leben zudem viele unserer Kunden.“ Der Chef von Pirelli Deutschland konstatiert, dass Breuberg als Standort bei manchen im Großraum noch gar nicht auf dem Radar sei. Aber das könne sich ja ändern.
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