Wie Ernst Jünger beinahe 103 Jahre alt wurde

Hierbei handelt es sich ausschließlich um Meinungsbeiträge, die den persönlichen Stil des Autors widerspiegeln. Diese Meinungsbeiträge müssen auf verifizierten Fakten basieren und den jeweiligen Personen mit Respekt begegnen, auch wenn deren Handlungen kritisiert werden. Alle Meinungsbeiträge von Personen, die nicht der Redaktion von EL PAÍS angehören, enthalten nach der letzten Zeile den Namen des Autors – unabhängig von dessen Bekanntheitsgrad – sowie Angaben zu Position, Titel, politischer Zugehörigkeit (falls zutreffend) oder Hauptberuf bzw. zu einem Beruf, der mit dem behandelten Thema in Zusammenhang steht oder stand.
Das Lesen seiner Tagebücher ist eine Ermutigung zu wissenschaftlichem Wissen.

Einen Tag nach seinem siebzigsten Geburtstag, im biblischen Alter, begann Ernst Jünger ein Tagebuch, das der Tusquets-Verlag unter dem Titel „Nach Siebzig“ veröffentlichte. (übersetzt von Andrés Sánchez Pascual) und beginnt am 30. März 1965 mit einem Spaziergang durch Wilflingen, einer Stadt, in der der deutsche Denker mit seiner Frau Liselotte, die er liebevoll Taurita nannte, weil sie im Sternzeichen Stier geboren war, zurückgezogen lebte.
Es ist faszinierend zu beobachten, wie Jüngers Denken Mythologie und wissenschaftliche Analyse miteinander verbindet. Die Lektüre seiner Tagebücher führt uns zu jenem schwer fassbaren Punkt zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen und doch einander ergänzenden Welten. So überrascht uns Jünger mit seiner Präzision und Sensibilität im Erkennen der Zeichen seiner Umgebung. Auf diesem ersten Spaziergang, mit dem er das Tagebuch eröffnet, begegnet er beispielsweise einer Eidechse. Er findet sie auf einem der Felsen auf dem Hügel, auf dem das „Schatzschloss“ steht. Es ist ein reales Bild, das Jünger dank seiner Interpretationsfähigkeit in eine fiktive Dimension überträgt und in der Beschreibung der Haut des Reptils als „braun mit grünen Streifen“ gipfelt. Jünger fragt sich daraufhin, ob dies der erste Frühlingsausflug der Eidechse sein könnte; sie wirkte schläfrig, als ob sie noch Spuren ihres Winterschlafs in sich trüge. Jünger nähert sich ihr mit großer Vorsicht und streichelt sie.
Jünger scheint uns mit dem Frühling ein Gefühl der Wiedergeburt zu vermitteln; ein Gefühl, das die „Lebendigkeit“ steigert. Der Winterschlaf war für Jünger das, was dem „Genießen der bis an die Grenzen der Wahrnehmung gedehnten Zeit“ am nächsten kam. Mit einer präzisen Syntax, die der von Borges oder Canetti – um nur zwei herausragende Beispiele zu nennen – in nichts nachsteht, lässt sich Jünger von seinem deutschen Wohnsitz auf eine fünfmonatige Reise in den Fernen Osten führen. Getrieben von Neugier entdeckt er Pflanzenarten wie die Ravenala, die auch als Reisepalme bekannt ist und deren Blätter sich fächerförmig ausbreiten und deren Kronen über die Mauern der Gärten Singapurs ragen.
In einem anderen Eintrag erklärt Jünger, dass Warmblüter anfälliger für den Tod sind als Kaltblüter, weil sie ihre Körpertemperatur in engen Grenzen halten müssen. Zu viel Hitze führt zu Fieber, zu wenig zu Erfrierungen, und hier bezeichnet Jünger die Klimaanlage als „kosmische Provokation“. Zur Verdeutlichung verweist Jünger auf den Anfang der Welt, als „die Geschöpfe in Gaia lebten wie im Mutterleib“, eingebettet in die Wärme von Sümpfen oder dem Meer. Als es kälter wurde, so Jünger weiter, überlebten die Organismen dank ihrer Anpassung und erreichten ein neues Gleichgewicht mit der Umwelt. Deshalb überleben Warmblüter wie Robben in kalten Gewässern, und ihre Existenz führte zur Entwicklung der Fische, die „um nicht zu erfrieren, eine schützende Hülle entwickelt haben“.
Mit diesen Streifzügen durch die Natur führt uns Jünger von der Neugier zum Wissen auf eine einzigartige Reise. Seine Tagebücher, und insbesondere der hier besprochene Band, sind eine wahre wissenschaftliche Abhandlung; ein Beispiel dafür, wie man einen Weg beschreitet, auf dem sich Vorhersage und Überraschung abwechseln, bis man Weisheit erlangt.
Möchten Sie einen weiteren Nutzer zu Ihrem Abonnement hinzufügen?
Wenn Sie auf diesem Gerät weiterlesen, ist es nicht möglich, den Text auf dem anderen Gerät weiterzulesen.
PfeilWenn Sie Ihr Konto teilen möchten, upgraden Sie Ihr Abonnement auf Premium, um einen weiteren Nutzer hinzuzufügen. Jeder Nutzer meldet sich mit seiner eigenen E-Mail-Adresse an, sodass Sie Ihr Erlebnis auf EL PAÍS personalisieren können.
Haben Sie ein Geschäftsabonnement? Klicken Sie hier, um weitere Konten zu erwerben.
Wenn Sie nicht wissen, wer Ihr Konto benutzt, empfehlen wir Ihnen , hier Ihr Passwort zu ändern.
Wenn Sie Ihr Konto weiterhin teilen, wird diese Meldung dauerhaft auf Ihrem und dem Gerät der anderen Person angezeigt und beeinträchtigt Ihr Leseerlebnis. Die Nutzungsbedingungen für das digitale Abonnement finden Sie hier.

Journalist und Schriftsteller. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen Titel wie „Durst nach Champagner“, „Schwarzpulver“ und „Meerjungfrauenhaut“.
EL PAÍS




